"Unsere Tribüne" – Plädoyer für eine Repolitisierung des kollektiven Erinnerns am und zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände
Vortrag von Inge Manka im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung "Unsere Tribüne - wie neu?"
Ich beschäftige mich seit über 15 Jahren mit den Architekturen und Räumen kollektiven Erinnerns, insbesondere mit dem ehemaligen Nürnberger Reichsparteitagsgelände. Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Unsere Tribüne – wie neu?" möchte ich einige Überlegungen nicht nur zur Tribüne, sondern zum gesamten Reichsparteitagsgelände als kollektivem Erinnerungsort anstellen. Ausgangspunkt für diese Überlegungen sind zwei sich momentan vollziehende Veränderungen im öffentlichen Erinnern in Deutschland.
Etwa seit dem Jahr 2000 hat sich für den vielfältigen und willentlichen Vergangenheitsbezug vor allem auf die Zeit des Nationalsozialismus mehr und mehr der Begriff der Erinnerungskultur durchgesetzt. Er löste andere Begriffe wie den der Vergangenheitsbewältigung oder auch der Vergangenheitsaufarbeitung ab. Doch seit ein paar Jahren wird erneut Kritik laut, oftmals als Ausdruck eines so genannten "Unbehagens" an der derzeit praktizierten Erinnerungskultur. Kritisiert wird nicht zuletzt der Verlust der mahnenden und gesellschaftskritischen Funktion des Gedenkens, was auch als eine "Entpolitisierung" des Erinnerns wahrgenommen wird. Dazu ein Beispiel.
Das Besucher_innen- und Informationszentrum der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück wurde 2012 mit einem neuen Schriftzug versehen, bei dem auf den vormaligen Namensteil des Mahnens – ohne Rücksprache mit der Lagergemeinschaft – verzichtet wurde.
Dazu heißt es in einem Flugblatt der Lagergemeinschaft: "Die Mehrzahl der Häftlinge des Konzentrationslagers Ravensbrück waren Menschen, die den Faschismus bekämpften. Die Überlebenden sahen es nach der Befreiung als ihre Aufgabe an, ihr Wissen um das Geschehen im Lager weiterzugeben und für das erfahrene Unrecht zu sensibilisieren. […] In ihrem Sinne muss der Ort ein politischer und damit ein Ort der Mahnung sein und bleiben."1
Wie auch immer man zum Begriff des Mahnens stehen mag, der hier von der Lagergemeinschaft formulierte Zusammenhang zeigt für mich sehr deutlich den angesprochenen Wandel und den Verlust des politischen und gesellschaftskritischen Anspruchs. Zu tun hat dieser Veränderungsprozess unter anderem mit der zunehmenden Professionalisierung, Institutionalisierung und Musealisierung der Erinnerungsarbeit an historischen NS-Orten.
Neben allen damit verbundenen positiven Aspekten – der Staat übernimmt die von Überlebendenverbänden und anderen Engagierten oft seit Jahrzehnten geforderte historische und finanzielle Verantwortung – verhindern diese Entwicklungen mittlerweile eher eine breite zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung und Beteiligung als dass sie diese fördern würden.
Ein zweiter Wandlungsprozess betrifft die historischen Orte der NS-Zeit selbst. Immer wieder wird betont, dass aufgrund des zunehmenden Fehlens von Zeitzeug_innen die Orte wichtiger würden für die Vermittlung der immer weiter zurückliegenden NS-Vergangenheit. Nur die Orte könnten heute noch einen unvermittelten und authentischen Zugang zur Geschichte bieten.
Damit steigen die Ansprüche an das Leistungsvermögen von Erinnerungsorten, zum einen inhaltlich, indem sie Aufgaben übernehmen sollen, die zuvor an anderer Stelle erfüllt wurden bzw. die noch gar nicht zu erfüllen waren. Zum anderen bedarf es vermehrter logistischer wie infrastruktureller Einrichtungen (wie die Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Parkplätze, Toilettenanlagen sowie sonstige Versorgungseinrichtungen), um den Anforderungen durch steigende Besucher_innenzahlen, die nicht nur in Nürnberg, sondern auch an anderen wichtigen ehemaligen NS-Orten zu verzeichnen sind, nachzukommen.
Allerdings ist auch zu sagen, dass die Erinnerungsorte von diesen Entwicklungen mittlerweile durchaus ökonomisch wie symbolisch profitieren können. BauLust weist in den Positionen 2014 darauf hin, dass das ehemalige Reichsparteitagsgelände nicht mehr versteckt, sondern mehr und mehr zu einer Attraktion für die Tourismuswirtschaft wird und damit zu einer unique selling proposition in einem internationalen Städtewettbewerb.2 Auch hier wird also ein gesellschaftskritischer Anspruch zurückgedrängt. Die Besucher_innen werden immer stärker zu Konsument_innen eines nun professionell aufbereiteten Geschichtsabschnitts. Somit kommt die jetzige Initiative der Stadt Nürnberg zur Generalsanierung der Zeppelintribüne zu einem Zeitpunkt, an dem sich die nun so genannte Erinnerungskultur neuerlich grundlegend zu verändern scheint.
Dazu möchte ich im Folgenden drei Überlegungen anstellen, die die Kritiken an den derzeitigen Praktiken des Erinnerns an die Zeit des Nationalsozialismus aufnehmen, und mit denen ich eine Veränderung der Perspektive auf das ehemalige Reichsparteitagsgelände versuche, um so zu einer ‚Repolitisierung‘ – zu einer Aktualisierung des gesellschaftskritischen Potenzials des kollektiven Erinnerns an diesem Ort – beizutragen.
1. Das Reichsparteitagsgelände als historischer "Ort des Mittuns" – Gemeinschaftsarchitektur
Martina Christmeier nennt in ihrer Studie zum Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände neben „Propaganda“ und „Massenmobilisierung“ die „Herrschaftsarchitektur“ als spezifischen Themenbereich für die Erinnerungsarbeit an diesem Ort.3 Und so wird die Architektur des Geländes meist auch dargestellt und vermittelt: als Architektur der Repräsentation von Herrschaft und Macht, entworfen und geplant von einigen Wenigen bzw. vielleicht überhaupt nur von Albert Speer und Adolf Hitler.
Diese Sicht, die im Übrigen auch von den Nationalsozialist_innen selbst etabliert und gestützt wurde, widerlegt Yasmin Doosry in ihrer äußerst fundierten Analyse zur Entscheidungs- und Durchführungsgeschichte der Reichsparteitagsarchitektur. Dabei arbeitet sie sehr deutlich heraus, dass durch die Verwendung bestimmter Architekturelemente verschiedene gesellschaftliche Gruppen angesprochen und damit in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ eingebunden werden sollten. Eine bislang meines Wissens nicht erfolgte Untersuchung dieser zentralen Bezugspunkte des jeweiligen Identitätsbewusstseins würde ihrer Meinung nach „sicher neue Einblicke in die Funktionsweise der nationalsozialistischen Architektur eröffnen“.4
Die Kunsthistorikerin Silke Wenk zeigte schon 1980, dass die Staatsarchitektur, die im Zentrum der NS-Baupolitik stand, auch als Gemeinschaftsarchitektur zu sehen ist. Der „innere Zusammenhalt“ der neuen Gemeinschaft sollte durch die architektonische Form organisiert werden. Unter anderem am Beispiel des Reichsparteitagsgeländes demonstriert Wenk, dass das Gebaute dabei nicht nur als bloßes Beiwerk der faschistischen Massenveranstaltungen gesehen werden kann. Dies verkennt ihrer Meinung nach den „Eigenwert“ der Architektur für die „Integration und Leistung der Ein- und Unterordnung der Menschen in das System des Nationalsozialismus“5.
Die Fokussierung auf eine vermeintlich vollkommen gelingende Herrschaftsarchitektur bleibt zudem – bei allen Dechiffrierungsanstrengungen beispielsweise bei Führungen über das Gelände – oftmals zu nahe an der Vorstellung der verführten oder passiven Masse der Teilnehmer_innen wie auch der deutschen Bevölkerung generell. Sie übergeht damit auch im Bereich der Architektur den Aspekt des „subjektiven, aktiven Entgegenkommens“, wie es die Sozialpsychologin Gudrun Brockhaus nennt6, ohne das die NS-Gesellschaft und die durch sie verübten Verbrechen nicht erklärbar sind.
Immer noch stellt sich die Frage, was die Menschen am Nationalsozialismus so attraktiv fanden, um freiwillig mitzutun. Diese Frage muss auch an die Architektur gerichtet werden. Und dies darf nicht nur aus der Perspektive der Produzent_innen erfolgen, im Sinne der Ziele, die Hitler, Speer und andere mit dieser Architektur verfolgt haben. In Zusammenhang mit dem Reichsparteitagsgelände kann und sollte also das Mittun und damit die Mittäter_innenschaft sehr vieler, auch anhand und im Bereich der Architektur, erforscht und erinnert werden, um ein Bild des Gesamtsystems bzw. der gesamten NS-Gesellschaft zu erhalten.
2. Der Erinnerungsort Reichsparteitagsgelände als öffentlicher Raum
Aus dieser Perspektive betrachtet ergibt sich, wie mir scheint, ein besonderer Anspruch an den heutigen Umgang mit dem Gelände. Diesen Anspruch möchte ich hier insofern kurz umreißen, als dass ich das ehemalige Reichsparteitagsgelände bewusst als öffentlichen Raum denke. „Öffentlicher Raum“ meint dabei nicht nur den Bereich unter freiem Himmel oder wie so oft den Raum, der zwischen dem Gebauten übrig bleibt. Die Idee von öffentlichem Raum macht hier nur Sinn, wenn dieser als ein Ort gedacht wird, an dem es auch um eine demokratische und zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit geht. Dafür kann es dienlich sein, Überlegungen aus der bildenden Kunst heranzuziehen, die sich schon lange mit dem öffentlichen Raum als Arbeits- und Diskursfeld beschäftigt.
„Öffentlich“ kann hierbei zweierlei bedeuten. Zum einen, wie es auch beim Reichsparteitagsgelände der Fall ist, handelt es sich um einen Ort, der im Großen und Ganzen für alle frei zugänglich und außerdem mit der Stadt Nürnberg im Besitz der öffentlichen Hand ist. Zum anderen ist Öffentlichkeit nichts, was von vornherein besteht; sie ist „kein Produkt eines zweckgerichteten Herstellens“, wie Oliver Marchart in Rekurs auf Hannah Arendt betont. Öffentlichkeit erzeugt sich in dieser Auffassung „im Handeln selbst“7.
Herausfordernd und aufschlussreich wäre nun – mit dem Ziel einer gesellschaftskritischen Erinnerungsarbeit – die Verknüpfung dieser beiden Denkvarianten von Öffentlichkeit in Bezug auf die vorhandene NS-Architektur bzw. den vorhandenen historischen Ort des ehemaligen Reichsparteitagsareals.
Aber will das nicht auch die Stadt Nürnberg? Dazu möchte ich kurz auf die Geschichte der ‚Kunst im öffentlichen Raum‘ am Reichsparteitagsgelände eingehen, soweit es die offiziellen Vorstellungen und Praktiken der Kommune betrifft. 2003 klingt es in einem Diskussionsbeitrag von Oberbürgermeister Ulrich Maly vergleichsweise radikal: Eine Art „historisch-politische Documenta“ solle mittels Teillösungen und temporären Eingriffen keine „einmalige Lösung“ suchen, sondern für eine „dauerhafte Denk- und Diskussionsleistung“ sorgen. Der Umgang müsse in „demokratisch-pluralistischer Form“ erfolgen, der Widerspruch zwischen Erinnern und anderen Interessen solle nicht aufgelöst, sondern konzeptionell zur Anregung einer geschichtsbewussten Beschäftigung eingesetzt werden. In den 2004 vom Stadtrat beschlossenen Leitlinien heißt es dann immerhin noch: „Die Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ist als offener Prozess im öffentlichen Dialog ohne vorgegebenes Ende zu führen.“ Die Kunst solle „Angebote“ schaffen, die „andere Zugänge in der Beschäftigung mit dem Gelände und der NS-Zeit ermöglichen“. Mit diesen künstlerischen „Kontrapunkten“ setzt Nürnberg dem „totalitären System der Bauherren und ihrer Architektur […] das demokratisch-pluralistische Denken der Gegenwart entgegen“.
Dann passiert längere Zeit – zumindest von außen wahrnehmbar – nichts. 2008 findet in der Kunsthalle Nürnberg die Ausstellung Das Gelände8 statt, die Arbeiten lokaler wie internationaler Künstler_innen zum Areal der Reichsparteitage zeigt, und die auch einen Teil vor Ort umfassen hätte sollen, was aber von der Stadt letztendlich nicht unterstützt wurde. Das von dem Nürnberger Künstler Thomas May geplante Programm mit 12-15 verschiedenen Einzelprojekten wurde kurzfristig abgesagt bzw. um ein Jahr verschoben. Doch 2009 wurde die geplante Realisierung der Projekte „erneut verschoben“, wie die Abendzeitung am 10. August9 berichtet. Es müsse erst ein Konzept für den Umgang mit Kunst auf dem Gelände erstellt werden, hieß es damals von Seiten der Stadt, vorher könnten keine Kunstprojekte am Gelände zugelassen werden.
Am 7. Oktober 2011 wurde schließlich ein Kunstkonzept der städtischen Koordinierungsgruppe für das Reichsparteitagsgelände im Stadtrat beschlossen. Dieses wirkt im Gesamten sehr auf Absicherung bedacht. Es ist von keinerlei Experimenten, Widersprüchen oder Ambivalenzen mehr die Rede. Den jeweiligen Ausstellungen gehen keine Forschungs- oder sonstige in Frage stellende Formate voraus oder begleiten diese. Bestenfalls ist an eine „breite öffentliche Diskussion“ im Vorfeld gedacht, um die „Akzeptanz des Projekts“ zu erhöhen, sowie an „zahlreiche Begleitveranstaltungen“ und den Einsatz kunst- und kulturpädagogischer Vermittlungsformate. Von den 2008 im Rahmen der Ausstellung geplanten Kunstprojekten wurde meines Wissens bis heute keines umgesetzt.
Wenn sich jedoch, wie vorher genannt, Öffentlichkeit erst im Handeln selbst herstellt, rücken die Formen der Teilhabe am kollektiven Erinnern – und der rege genutzte Informationstag von 2011 beweist, dass es Interesse daran gibt – in den Vordergrund. Und so ist beispielsweise zu fragen, ob die Erinnerungsarbeit (nicht nur, aber gerade auch zu diesem Ort) allein den Expert_innen, ob aus Politik, Verwaltung, der Geschichtswissenschaft oder der Museologie überlassen werden sollte und ob sie tatsächlich in erster Linie auf die perfekte Aufbereitung und Vermittlung der NS-Vergangenheit abzielen sollte.
3. Design als kritisches Instrument des Erinnerns
An Erinnerungsorten wird Design (ich spreche hier von Design, um alle planerischen, künstlerischen und architektonischen Überlegungen, Handlungen und Umsetzungen im gestaltenden Umgang mit diesem Ort und Raum erfassen zu können) oftmals nur zur Erfüllung anderswo, vorrangig in den Bereichen der Geschichtswissenschaft und der Politik, formulierter Aufgabenstellungen eingesetzt.
So wurden beispielsweise der Fachbereich für örtliche Raumplanung und das Institut für Kunst und Gestaltung der TU Wien, an dem ich arbeite, 2013 mit einer Entwurfsstudie für die Außenbereiche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen sowie deren Einbindung in die umliegende Region beauftragt. Im Laufe des Projekts zeigte sich jedoch, dass die Vorgaben des Innenministeriums, dem die Gedenkstätte untersteht, so eng und konkret waren, dass sie die „Lösung“ schon vorgaben.
In ihrer Reflexion über die (Un)Möglichkeit demokratischer Gedenkstätten kritisiert die Historikerin Cornelia Siebeck am – auch uns – vorgegebenen „Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“10 eine „apodiktische Musealisierungsrhetorik“, in der „‚wie in allen Belehrungsinstitutionen das Erklären, das Einordnen, das Verständlichmachen‘ und eine ‚Orientierung auf Resultatewissen‘ die Oberhand gewonnen haben“11.
Das von der Gruppe Das Kollektiv erarbeitete Projekt spiegelt deren intensive und sensible Auseinandersetzung sowohl mit diesen spezifischen Vorgaben als auch mit den Bedingungen der Gestaltung eines NS-Erinnerungsortes zu Beginn des 21. Jahrhunderts allgemein wider. Die Aufgabenstellung und der derzeitige Umgang mit der Gedenkstätte scheinen den Studierenden nach eigener Aussage die Fähigkeit von Menschen komplexe Konstellationen erfassen zu können, zu unterschätzen. Damit einher geht die Reduktion denkbarer Zugänge auf bereits bekannte und gut abgesicherte räumliche und soziale Möglichkeiten diesem historischen Ort zu begegnen. In ihrer Arbeit Vierzig Morgen nahmen sie diese Wahrnehmung auf und entwickelten ein komplexes Szenario für die Zukunft des Gedenkortes Mauthausen12.
Das Modell zeigt zwei räumliche Konsequenzen dieses Zukunftsszenarios. Im engeren Gedenkstättenbereich werden wie in einem Museum alle Baulichkeiten vollständig unter Glas gestellt, in konsequenter Umsetzung des Wunsches nach der Konservierung eines bestimmten Zustandes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Alle nicht-befestigten Flächen sind dem Getreideanbau freigegeben, um die Kultivierung des Bodens zu gewährleisten. Dieser Vorschlag führt natürlich zu einer ganzen Reihe von Bedenken und unbehaglichen Gefühlen. Auf der anderen Seite eröffnet er gerade aufgrund seiner radikal zu Ende gedachten Gestaltungsideen13 die Möglichkeit, über etablierte Gestaltungsmuster hinauszudenken.
Mich erinnert dieses Szenario stark an die von BauLust unter dem Titel Zeppelintribüne – Null oder Hundert? entwickelten Denkmodelle. In beiden Fällen geht es erst einmal nicht darum einen Alternativvorschlag zu machen, von dem behauptet wird, dass er viel besser oder adäquater als die bis dahin überlegten Vorgangsweisen sei. Indem ein Schritt zurück vor die Festlegung einer bestimmten Lösung gemacht wird, soll eine breite Diskussion über die Zukunft des jeweiligen Erinnerungsortes initiiert und provoziert werden. Beide Vorgangsweisen zeigen eine Veränderung der Funktion von Design selbst. Design hat aus dieser Blickrichtung betrachtet nicht vorrangig die Aufgabe, Lösungen für inhaltliche wie logistische Probleme bereitzustellen, sondern wird als eigenständiges Werkzeug für Erkenntnis und Kritik gesehen. Es geht nicht um die Bewerkstelligung möglichst reibungsfreier Abläufe, sondern um das Erkunden und Erforschen verschiedener Möglichkeiten bzw. um das Eröffnen von – oft auch unbequemen – Zugängen zu einer negativen Vergangenheit.
Wenn ich nun abschließend die drei Überlegungen (das Reichsparteitagsgelände als historischer „Ort des Mittuns“, der Erinnerungsort als öffentlicher Raum, Design als kritisches Instrument des Erinnerns) zusammenführe, bedeutet das für das kollektive Erinnern zum und am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg: An einem Ort, an dem nicht nur die Parteitage, sondern auch die Architektur und die Gestaltung des Gesamtgeländes der „Konstruktion von Gemeinschaft“14 dienten, sollte diese Funktion in die Geschichtsarbeit miteinbezogen werden. Die vorhandenen Baulichkeiten sollten nicht nur als Herrschafts-, sondern auch als Gemeinschaftsarchitektur untersucht, beforscht und diskutiert werden.
An einem wichtigen, wenn nicht dem wichtigsten Ort der damaligen deutschen faschistischen Öffentlichkeit sollte heute zudem das Ziel der Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit auch die Organisations- und Beteiligungsformen der Geschichtsarbeit bestimmen15. Im Umgang mit den materiellen Überresten sollten neue Zugänge überlegt und ausprobiert werden. Eine Repolitisierung der Erinnerungsarbeit an die NS-Zeit bedeutet also auch das Risiko eines „offenen Prozesses im öffentlichen Dialog ohne vorgegebenes Ende“ – wie es in den Leitlinien der Stadt Nürnberg von 2004 heißt – zu wagen, wenn das Erinnern nicht zu einer reinen Pflichtübung oder gewinnbringenden Aktion verkommen soll.
Literatur
Brockhaus, Gudrun: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997.
Christmeier, Martina: Besucher am authentischen Ort. Eine empirische Studie im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Idstein 2009.
Doosry, Yasmin: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen …“: Studien zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Tübingen [u.a.] 2002.
Kunsthalle Nürnberg im KunstKulturQuartier: Das Gelände, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Nürnberg 2008.
Marchart, Oliver: Hegemonie und künstlerische Praxis. Vorbemerkungen zu einer Ästhetik des Öffentlichen, in: Ralph Lindner, Christiane Mennicke, Silke Wagner (Hg.): Kunst im Stadtraum – Hegemonie und Öffentlichkeit, Dresden 2004, S. 23-41.
Rumpf, Horst: Die Gebärde der Besichtigung, in: Kirsten Fast (Hg.): Handbuch der museumspädagogischen Ansätze, Opladen 1995, [ohne Seitennachweis].
Siebeck, Cornelia: „The universal is an empty place“. Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten, in: Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.): Erinnerungsorte in Bewegung. Zur Neugestaltung von Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Bielefeld [geplanter Erscheinungstermin Oktober 2015].
Sternfeld, Nora: Plädoyer. Um die Spielregeln spielen! Partizipation im post-repräsentativen Museum, in: Susanne Gesser (Hg.): Das partizipative Museum. Bielefeld 2012, S. 119-126.
Urban, Markus: Die inszenierte Utopie. Zur Konstruktion von Gemeinschaft auf den Reichsparteitagen der NSDAP, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.): ‚Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘?. Paderborn u.a. 2012.
Wenk, Silke: Gebauter Nationalsozialismus, in: Argument Sonderband 62: Faschismus und Ideologie, Band 2, 1980, S. 255-279.
Unterlagen:
Bundesministerium für Inneres, Abt. IV/7 (Hg.): mauthausen memorial neu gestalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2009;
www.mauthausen-memorial.at/db/admin/de/show_article30f7.html
Die Abendzeitung vom 10.8.2009: Kunst in der Warteschleife;
www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.kultur-kunst-in-der-warteschleife.98896e7b-7941-4861-809b-1ca6250c1eb2.html (07.10.09).
Diskussionsbeitrag Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly, 2003:
http://www.museen.nuernberg.de/fileadmin/mdsn/pdf/Dokuzentrum/Downloads/Zukunft_Reichsparteitagsgelaende/diskussionsbeitrag_obm.pdf
Leitlinien der Stadt Nürnberg, 2004:
http://www.museen.nuernberg.de/fileadmin/mdsn/pdf/Dokuzentrum/Downloads/Zukunft_Reichsparteitagsgelaende/leitlinien_stadtrat.pdf
Kunstkonzept, 2011:
Koordinierungsgruppe ehemaliges Reichsparteitagsgelände: Kunst auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände; online-service2.nuernberg.de/eris09/attachment.do;jsessionid=bb14c1e90df2c328daf16422acb03c39; Beschluss vom 07.10.2011; (23.03.2015).
Lernort Zeppelinfeld, 2013:
http://www.nuernberg.de/imperia/md/stadtportal/dokumente/broschuere_lernort_zeppelinfeld.pdf
Baulust: Positionen 2014. Zum Umgang mit der Zeppelintribüne und dem Reichsparteitagsgelände
www.baulust.de/projekte/reichsparteitagsgelaende/
Anmerkungen:
1 Zitiert nach: Zeitschrift Malmoe 67, S. 17, Wien 06/2014.
2 Siehe BauLust: Positionen 2014, S. 68.
3 Siehe Christmeier 2009, S. 387.
4 Doosry 2002, S. 388.
5 Wenk 1980, S. 256.
6 Brockhaus 1997, S. 63.
7 Marchart 2004, S. 26-27; Hervorhebung im Original.
8 Siehe Kunsthalle Nürnberg 2008.
9 Siehe Abendzeitung vom 10. 8. 2009.
10 Siehe Bundesministerium für Inneres, 2009.
11 Siebeck 2014, S. 237; die Zitate im Zitat stammen von Rumpf 1995, [ohne Seitennachweis].
12 Unter cargocollective.com/vierzigmorgen sind ein Film, Zeichnungen und Pläne, weitere Modellfotos sowie ein längerer Text zu finden, die das Gesamtprojekt bilden.
13 Die beiden genannten Entwurfsideen (Verglasung, Getreideanbau) sind Teile eines größeren Szenarios, dessen Hintergrund eine fiktive, aus diversen Texten zum kollektiven Erinnern gesampelte Geschichte der Zukunft der Gedenkstätte Mauthausen bildet.
14 Siehe Urban 2012.
15 Partizipation meint in diesem Sinne, „um die Spielregeln selbst“ und nicht nur innerhalb dieser spielen zu können. Siehe Sternfeld 2012.
Buchtipp:
Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.): Erinnerungsorte in Bewegung.
Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen
www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3059-6/erinnerungsorte-in-bewegung